Rückblick auf mein erstes Jahr im Europaparlament
vor genau einem Jahr wurde ich für Bündnis 90/ Die Grünen in das Europäische Parlament gewählt. In der Zeit ist viel passiert. Hier ein kleiner Überblick:
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Neue Aufgaben, Kolleg*innen und Mitstreiter*innen
Der Kampf für ein soziales Europa stand im Zentrum meiner Europakampagne. Umso mehr habe ich mich gefreut zur Vize-Vorsitzenden des Ausschusses für Beschäftigung und Soziale Angelegenheiten gewählt worden zu sein, in dem ich meine Herzensthemen am besten nachverfolgen kann. Dort arbeite ich an den Schwerpunkten Armutsbekämpfung, Wohnen, Grundsicherung und Inklusion.
Doch nur mit starken Mitstreitern und Verbündeten hat man in Brüssel Chancen etwas voranzubringen. Deshalb galt gerade der Beginn der Legislatur dem Austausch und dem Kennenlernen. Allein in unserer Fraktion Greens/EFA sind wir 68 Abgeordnete aus 15 Ländern, davon 21 Grüne aus Deutschland. Neben meinen europäischen Kollegen habe ich mich mit dutzenden NGOs getroffen. Organisationen wie das European Disability Forum (EDF) oder FEANTSA (European Federation of National Organisations Working with the Homeless) sind zu unseren täglichen Ansprechpartnern geworden.
Neue Kommission, neues Glück?
Eine der ersten Aufgaben des Europäischen Parlaments waren die Anhörungen der 26, von Frau von der Leyen vorgeschlagenen, neuen Kommissionsanwärter*innen. Besonders aufmerksam verfolgte ich die Anhörungen von Nicolas Schmit und Helena Dalli. Während der Kommissar für Arbeit mich eher enttäuschte, sehe ich in Helena Dalli, die neue Kommissarin für Gleichstellung, eine gute Partnerin im Kampf gegen die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung. In ihrer Anhörung versicherte sie mir, künftig ihr Veto bei allen Gesetzesvorhaben der Union einzulegen, die dem Recht auf Inklusion entgegenstehen.
European Green Deal und der gerechte Übergang
Die erste große Aktion der neuen Europäischen Kommission war es noch Ende des Jahres den europäischen Grünen Deal vorzustellen, einen Maßnahmenplan für eine nachhaltige EU-Wirtschaft und EU-Klimaneutralität bis 2050. Im Januar stimmte das Europäische Parlament für einen von den Grünen initiierten Beschluss, der den Plan der Kommission unterstützt und an mehreren Stellen ambitioniertere Maßnahmen fordert. So gehört zum europäischen Grünen Deal der Kommission auch ein Fahrplan für den "gerechten Übergang", ein bis jetzt noch sehr unvollständiges Dokument. Als Sozialpolitikerin setze ich mich dafür ein, dass dieser Fahrplan mit starken Richtlinien gefüllt wird. Denn als erstes und am schwersten trifft die Klima-Krise diejenigen, die sich jetzt schon am Rande der Gesellschaft befinden. Für einen gerechten Übergang brauchen wir starke soziale Absicherungsmechanismen. Das umfasst eine EU-Rahmenrichtlinie für eine angemessene Grundsicherung und einen Mindestlohn, eine EU-Strategie zur Armutsbekämpfung und Maßnahmen zur Vermeidung von Obdachlosigkeit und Bekämpfung der Wohnungskrise. Klima- und Sozialpolitik müssen jetzt mehr denn je zusammen gedacht werden.
Hier meine Rede dazu im Plenum.
Menschen mit Behinderung
Im Europäischen Parlament bin ich die einzige weibliche Europaabgeordnete mit sichtbarer Behinderung. Als Vorsitzende der interparlamentarischen Gruppe von Menschen mit Behinderung kämpfe ich auf allen Ebenen für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Europa. Ein schöner Erfolg Anfang des Jahre war, dass wir im Parlament auf meine Initiative hin eine Entschließung erarbeitet haben, welche die Europäische Kommission dazu auffordert, eine ambitionierte EU-Strategie zugunsten von Menschen mit Behinderung für die Zeit nach 2020 zu entwickeln.
Die Corona-Krise hat uns noch einmal schmerzlich verdeutlicht, in welchen Bereichen immer noch gegen die Rechte von Menschen mit Behinderung verstoßen wird. Institutionalisierung, mangelnde Barrierefreiheit in Transport, Krankenhäusern, Informationskanälen sowie fehlende Service- und Pflegeleistungen haben momentan verheerende, gar tödliche, Folgen für Menschen mit Behinderung.
Außenausschuss und Delegationsreise in die Türkei
Im Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten beschäftige ich mich neben der Region Subsahara-Afrika besonders mit Syrien. 9 Jahre herrscht dort schon Krieg und die Welt schaut weg. Im Rahmen unserer Türkei Delegationsreise Ende Februar konnte ich mir selbst ein Bild davon machen, wie schwierig die Situation von geflüchteten Syrerinnen und Syrern ist. Kurz danach öffnete die Türkei die Grenzen zu Griechenland und die EU schaute wieder nach Syrien. In meiner Plenarrede fordere ich den Rat dazu auf, endlich aktive Friedenspolitik zu betreiben und das politische Gewicht der EU zu nutzen. Wir brauchen humanitäre Korridore nach Idlib, eine konsequente Verfolgung der Kriegsverbrechen in Syrien und eine UN-Friedensmission. Auch wenn das Thema medial wieder verflogen ist, werde ich nicht aufhören, an die politische Verantwortung der EU zu erinnern. Aktuell finden in Koblenz die ersten Kriegsverbrecherprozesse statt. Angeklagt sind zwei Mitarbeiter des syrischen Geheimdienstes, denen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen wird. Die Prozesse sind historisch und ein wichtiges Zeichen, aber nur ein kleiner Schritt, dem noch viele folgen müssen.
Umso mehr kämpfe ich weiter dafür, dass Verstößen gegen Menschenrecht nachgegangen wird und Maßnahmen für die Umsetzung unserer Rechte EU-weit voran gebracht werden.
Parlament in Corona Zeiten
Gerade als man sich an das Parlament, an das Pendeln zwischen Hannover, Brüssel und Straßburg gewöhnt hatte, brach Covid-19 über Europa.
In diesen Zeiten mache ich mich besonders für den Schutz von Risikogruppen stark. Gemeinsam mit Aktivisten wie Raul Krauthausen habe ich eine Petition gegen die Isolation von Risikogruppen gestartet. Denn gerade jetzt ist es wichtig, dass Menschen mit Vorerkrankungen oder Behinderung nicht von Sozial- und Arbeitsleben ausgeschlossen werden.
Außerdem habe ich mich stark mit dem Thema Triage auseinandergesetzt.
Insgesamt habe ich drei Webinare mit Experten und Grünen Bundestagsabgeordneten zu den Themen Risikogruppen, Triage und Pflege in Corona-Zeiten organisiert.
Wie geht es weiter?
Für mich steckt in dieser Krise auch eine Chance auf einen Kurswechsel in Richtung soziales Europa.
Diese Zeiten haben uns wieder einmal gezeigt, wie wichtig soziale Absicherungssysteme sind und welche verheerenden Konsequenzen die Unterfinanzierung von Gesundheits- und Sozialsystemen haben kann.
Die EU und die im Julie beginnende deutsche EU-Ratspräsidentschaft müssen diesen Moment nutzen, um Punkte wie eine EU-Rahmenrichtlinie zur Grundsicherung und einen EU-Rahmen für Strategien zur Vermeidung von Wohnung- und Obdachlosigkeit auf die Agenda zu setzen.
Der Fokus muss jetzt darin liegen, die EU krisenfest zu machen. Dafür schlagen wir Greens/EFA einen fünf Billionen Euro schweren Investitionsplan vor, der den wirtschaftlichen Aufschwung in Folge der Corona-Krise robust, nachhaltig und gerecht gestalten soll.