Ein Aufschrei

Morde an Menschen mit Behinderungen in Potsdam

28.05.2021

Die Vorfälle Ende des letzten Monats waren hart, aber nicht unbekannt für Menschen mit Behinderungen.

4 Menschen mit Behinderungen wurden getötet, von einer Mitarbeiterin des Oberlinhauses (ein diakonischer Anbieter für „spezialisierte Leistungen im Bereich Teilhabe, Gesundheit, Bildung und Arbeit“).

Die erste Reaktion der breiten Öffentlichkeit: kaum sichtbar. Schlimmer noch, mitunter gab es sogar Zuspruch für die

Täterin: sie sei überarbeitet gewesen, musste wohl so handeln und die armen behinderten Menschen wurden “erlöst". Ein Wording aus brauner Vorzeit, was aber viel darüber sagt, wie man über uns, die behinderten Menschen denkt. Potsdam war nur die Spitze des Eisberges, dem ging viel voraus.

Kurz nach den Tötungen sprach ich mit einer jungen Frau, die in der besagten Einrichtung in Potsdam ihre Ausbildung absolvierte. Sie sprach über psychischen Druck und seelischen Missbrauch, darüber dass man ihr vorschrieb, wann sie im Bett zu liegen habe, wann sie zur Toilette gehen dürfe, jeder ihrer Schritte wurden notiert.

Die Gesellschaft darf nicht weiter ihre Augen verschließen, dass viele Menschen mit Behinderungen immer noch diskriminiert und als minderwertig angesehen werden. Abschottung in Einrichtungen steht dem Gedanken der Inklusion und den UN-Behindertenrechtskonvention entgegen.

Die Erzählungen der jungen Frau erinnern mich an meine Jugendzeit. Ich hatte eine Regelschule besucht, wurde nicht behindert sozialisiert. Dann kam die Frage der Berufsausbildung: was nun? Man bot mir an, in einem Bildungswerk in Berlin 1997 eine 4-jährige Ausbildung zu absolvieren. Cool in Berlin. Mit 17 mein Traum. Ich bekam den Ausbildungsvertrag zugesandt und was las ich:

  • Gehalt: 100 DM pro Monat
  • Nach 22:00h keinen Ausgang
  • Fahrt nach Hause nur einmal im Monat möglich

Wer hat das zu entscheiden, dass ich nicht nach 22:00 nicht raus dürfe? Mit fast 18? Ohne gesetzliche Betreuung? Niemand!

Ich lehnte den Vertrag dankend ab. Die Einrichtung telefonierte mit mir, schrie mich an: Ich würde NIE mehr irgendwo anders einen Ausbildungsplatz finden. Man kannte mich nicht. Wusste aber über mein Nicht-Können zu urteilen. Ein Telefonat, welches mir bis heute in den Knochen sitzt.

Diese Geschichte ist kein Einzelfall, als Europaabgeordnete erreichen mich zahlreiche Nachrichten: Positive, wie auch Negative. Das diese Erzählungen und Erfahrungsberichte publik werden, rüttelt an dem System der Einrichtungen und Werkstätten: die Schutz- und Schonräume, die keine sind....

Wie andere auch, wünschen sich viele Menschen mit Behinderungen ein unabhängiges Leben. Nicht in jeder Einrichtung läuft es schlecht. Trotzdem müssen wir dringend inklusive Wege und Alternativen dazu stärken. Unabhängiges Wohnen, lokale Hilfeleistungen, Barrierefreiheit aber auch gleiche Arbeitsbedingungen und Mindestlohn für Menschen mit Behinderungen garantieren. Werkstätten und Einrichtungen, die dem Artikel 27 der UN-Behindertenrechtskonvention entgegenstehen, müssen auslaufen. So fordern wir es in meinem Bericht, der im Europäischen Parlament abgestimmt wurde. Auch die Grünen Mitglieder der BAG Behindertenpolitik sowie zahlreiche Aktivist*innen pochen seit langem auf Veränderung, damit endlich das Machtverhältnis umgekehrt wird.

Statt zu schweigen, müssen wir als Gesellschaft diese Tötungen als Aufschrei verstehen, endlich etwas zu ändern.
Inklusion bedeutet, dass Menschen mit und ohne Behinderungen zusammen lernen, arbeiten, leben und erleben. Sicher wäre auch anders über die Vorfälle berichtet worden, wenn dies schon der Fall wäre.