Europäisches Parlament stimmt Inklusionsmaßnahmen für den Arbeitsmarkt

Teilhabe statt Abschottung

08.03.2021
Inklusion von Menschen mit Behinderung in der Arbeitswelt - EU-Bericht von Katrin Langensiepen

Link zum Bericht: https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2021-0075_DE.html

Mit großer Mehrheit hat das Europäische Parlament am 10.03.2021 für meinen Bericht zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in den Bereichen Beruf und Beschäftigung gestimmt (578 dafür/65 dagegen/71 enthalten).

Das Haus ist sich einig dass die Rechte für Menschen mit Behinderung unverhandelbar sind.  Neben verpflichtender Diversitätsquoten und besserer Unterstützung für Unternehmen fordere ich vor allem das Auslaufen von Behindertenwerkstätten und die gezielte Stärkung von inklusiven Alternativen. Statt abgeschottet zu werden, sollen Menschen mit und ohne Behinderung zusammen arbeiten, einen Arbeitnehmer*innen Status bekommen und einen Mindestlohn gezahlt kriegen.

Europaabgeordnete Katrin Langensiepen, Berichterstatterin und stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten, kommentiert:

“Über 10 Jahre nach der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention scheitern die EU-Mitgliedstaaten immer noch daran, ihre Verpflichtungen zu erfüllen. Gleichberechtigten Zugang zum ersten Arbeitsmarkt ist für die meisten Menschen mit Behinderung noch fern ab von der Realität. Weniger als die Hälfte von ihnen haben ein Anstellung.

Kern des Problems bleibt die Abschottung und Nicht-Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderung und der Mangel an politischen Willen dies ändern zu wollen.
Statt an alten Strukturen und Sonderwelten wie Behindertenwerkstätten festhalten zu wollen, müssen wir Alternativen stärken bei denen Menschen mit und ohne Behinderung zusammenarbeiten. Deshalb fordern wir auch das Auslaufen von Behindertenwerkstätten, die nicht mit der UN-Behindertenrechtskonvention übereinstimmen und Menschen mit Behinderung keinen Arbeitnehmer*innen-Status geben. Sozialer Schutz und Mindestlohn muss auch für Menschen mit Behinderung gelten. Gerade für Deutschland, Spitzenreiter der Behindertenwerkstätten, wird dies zu großen Veränderungen führen.

Außerdem müssen Unternehmen bei der Inklusion und Einstellung von Menschen mit Behinderung besser unterstützt und Bürokratie für individuelle Lösungen abgebaut werden.

Inklusionsaktivist Raul Krauthausen unterstreicht:

“In Deutschland arbeiten derzeit 300.000 Menschen in Behindertenwerkstätten, nur 1% davon schaffen den Weg in den allgemeinen Arbeitsmarkt. Der Rest arbeitet dort sein Leben lang weiter abgeschottet für einen Taschengeldbetrag. Die Politik muss erkennen, dass Werkstätten oder Berufsbildungsstätten so wie sie jetzt sind nicht unbedingt der Inklusion zuträglich sind. Menschen mit Behinderungen, die individuelle inklusive Wege gehen wollen, werden derzeit bürokratisch mehr Steine in den Weg gelegt als ermutigt, ihr Glück auf dem ersten Arbeitsmarkt zu versuchen. Das Gegenteil muss der Fall sein.”

Europaabgeordnete Langensiepen führt fort: 

“Es ist die Verpflichtung der EU diesen Prozess zu unterstützen.
Inklusion zieht sich durch alle Lebensbereiche. Wenn ich für einen Job in eine Stadt ziehen muss, in der Straßen und Transport nicht barrierefrei sind oder ich keine behindertengerechte Wohnung finde, werde ich diesen Job auch nicht in Erwägung ziehen. Wenn er auf einer nicht-barrierefreien Website ausgeschrieben ist, werde ich ihn wahrscheinlich gar nicht erst finden.
Auf EU-Ebene fehlt uns derzeit der rechtliche Rahmen, um Diskriminierung in allen Lebensbereichen einzufordern. Seit über 12 Jahren wird eine übergreifende Antidiskriminierungsrichtlinie schon im Rat blockiert - auch von Deutschland. Als “Hüterin der Menschenrechte” ist das für die EU ein absoluter Skandal.

Was die Freizügigkeit von Menschen mit Behinderung innerhalb der EU angeht, fordern wir einen EU-weiten Behindertenausweis. Derzeit gelten in allen Mitgliedstaaten unterschiedliche Definitionen von Behinderung, was flexibles Reisen und Arbeiten für Menschen mit Behinderung unmöglich macht.”
 

Zusammenfassung meiner politischen Kernforderungen in dem Bericht:

Alternativen zu Behindertenwerkstätten:
In mehreren Mitgliedstaaten sind Menschen mit Behinderung überwiegend in speziellen  Werkstätten beschäftigt. Dies ist ein segregiertes Umfeld, in dem sie oft keinen Arbeitnehmerstatus, keine Arbeitsrechte oder einen garantierten Mindestlohn haben. Dies ist ein klarer Verstoß gegen die UN-BRK.

Die Mitgliedstaaten müssen die bestehenden Werkstättenpraxis hinsichtlich ihrer Wirksamkeit bei der Vermittlung von Menschen mit Behinderung in den ersten Arbeitsmarkt prüfen. Zudem müssen sie sicherstellen, dass sie an rechtliche Rahmenbedingungen in den Bereichen soziale Sicherheit, Mindestlöhne und Nichtdiskriminierung gebunden sind.

EU-Leitlinien für angemessene Vorkehrungen (Veränderungen an einem Arbeitsplatz/-umfeld):
Einer der Gründe, warum Arbeitgeber oft zögern, Menschen mit Behinderung einzustellen, ist der Mangel an Informationen über angemessene Vorkehrungen sowie die Angst vor hohen Kosten und langen, komplizierten Verfahren für die Beantragung staatlicher Unterstützung. Klare EU-Richtlinien sollten die Prozesse transparenter und leichter verständlich machen. 

Diversitätsquoten:
Quoten müssen in den Mitgliedstaaten festgelegt, aufrechterhalten und durchgesetzt werden. Bei Nichteinhaltung sollten Unternehmen nicht allein nur Bußgeldern zahlen, sondern auch aktive Unterstützung bei der Einstellung von Menschen mit Behinderung (z.B. durch freiwillige Listen von Bewerbern) und bei der Ausarbeitung von Diversitätsplänen erhalten.

Universelles Design:
Alle neuen Gebäude und Produkte (einschließlich IT-Ausrüstung und Softwares) in der EU sollten systematisch nach der Logik des “universellen Designs” konzipiert werden. So können sie von einem Maximum an Menschen genutzt werden, unabhängig vom Grad Behinderung. 

Berücksichtigung der Intersektionalität:
Menschen mit Behinderung sind keine homogene Masse. Je nach Geschlecht, Alter, Art der Behinderung, ethnischer Herkunft oder sexueller Orientierung ist Diskriminierung vielschichtig. Die Mitgliedstaaten müssen dies berücksichtigen und gezielte Maßnahmen anbieten, um mehrfache und intersektionelle Benachteiligungen anzugehen. 

Gegenseitigen Anerkennung des Behindertenstatus:
Bis heute unterscheiden sich die Definitionen des Begriffs "Behinderung" und die damit verbundenen Ansprüche auf Sozialleistungen und Unterstützung in den Mitgliedstaaten. Das erschwert die Arbeit von Menschen mit Behinderung in einem anderen Mitgliedstaat. Damit auch sie ihr Recht auf Freizügigkeit in der EU vollständig nutzen können, brauchen wir eine einheitliche Definition. 

Daten:
Gegenwärtig besteht ein erheblicher Mangel an Daten über Menschen mit Behinderung. Dies erschwert die Beurteilung der Situation in den Mitgliedstaaten. Die EU muss in die Erhebung vergleichbarer Daten zur Situation von Menschen mit Behinderung investieren. Erhebungen zu Beschäftigen sollten nach Geschlecht, Alter, Art der Behinderung, ethnische Herkunft und sexuelle Orientierung aufgeschlüsselt sein und auch die Menschen mit Behinderung einschließen, die bisher nicht in den Statistiken berücksichtigt wurden.