Was für Menschen mit Behinderung in der zweiten Welle getan werden muss

30.10.2020

Meine Rede im Rahmen einer Veranstaltung vom European Disability Forum:

Ich möchte gar nicht ins Detail gehen, wenn es um das Ausmaß an Diskriminierung von Menschen mit Behinderung in Corona-Zeiten geht. 
Kein Zugang zu medizinischer Versorgung, Dienstleistungen und Informationen sowie abgeschottetes Leben in Einrichtungen hatten für vielen verheerende - wenn nicht tödliche - Konsequenzen. 
Wir alle wissen wie schwerwiegend gegen die Rechte von Menschen mit Behinderung vorstoßen wurde und auch immer noch verstoßen wird.
Und wir alle wissen: all dies hätte verhindert werden können, hätten wir ein Europa, das die Punkte der UN-BRK tatsächlich umsetzt.

Wichtig ist, dass wir uns jetzt nicht unterkriegen lassen und alles daran setzen weitere Verletzungen gegen Menschenrecht vorzubeugen.

Was kann die EU und ihre Mitgliedstaaten also kurzfristig und langfristig tun? 

  • Mein allererster Punkt klingt einfach, ist aber essentiell und trifft den Kern des Problems:
    Menschen mit Behinderung müssen endlich und immer automatisch in das Krisenmanagement und das Ergreifung von Krisenmaßnahmen eingebunden werden! Sowohl auf nationaler Ebene als auch auf europäischer Ebene. Wäre das von Anfang der Fall gewesen, würde wir hier heute nicht stehen.
  • Zweitens müssen wir dringend Menschen mit Behinderung aus abgeschotteten Einrichtungen holen und ihr Leben in die Gemeinschaft verlagern. Einrichtungen haben sich in den letzten Monaten zu Todesfallen entwickelt. Um weitere Dramen zu verhindern, müssen Menschen mit Behinderung aus der Isolation geholt werden. EU-Fonds müssen gezielt für Dienstleistungen und Pflege vor Ort, Assistenzleistungen und barrierefreies Wohnen eingesetzt werden und dürfen nicht weiter an Einrichtungen gehen, die nicht mit der UN BRK übereinstimmen. 
  • Drittens, und dieses Thema liegt mir besonders am Herzen, dürfen sich Regierungen und die Europäischen Union nicht weiter beim Thema Triage raushalten. 

    Wer wird beatmet, wer nicht? In mehreren Mitgliedstaaten traf das “wer nicht?” leider zu oft auf Menschen mit Behinderung zu. Häufiger Grund: “Geringe Lebenserwartung”. Patienten mit Down-Syndrom in Spanien wurde eine Behandlung auf der Intensivstation verwehrt. Menschen in Einrichtungen in Rumänien wurden gar nicht erst ins Krankenhaus gefahren und starben vor Ort. Das darf nicht noch einmal passieren.

    Wichtig ist, dass vor der Überlastung von Krankenhäusern über Leitlinien nachgedacht wird. Anfang des Jahres habe ich alles dafür getan, in Deutschland mediales Interesse auf das Thema zu lenken und habe Webinare dazu organisiert. Denn auch dort gibt es nur diskriminierende Triage Empfehlungen der ärztlichen Fachgesellschaften.

    Es kann nicht sein, dass sich Regierung raushalten und tatenlos zusehen, dass gegen Menschenrecht verstoßen wird. Menschenleben darf nicht gegen Menschenleben ausgespielt werden.
    Auf Europäischer Ebene fordere ich deshalb eine Leitlinie zum Thema Triage, die sich hier klar gegen die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung positioniert. 
  • Viertens brauchen wir starke finanzielle Unterstützung und Hilfsmittel für Organisationen vor Ort. Besonders auch an Organisationen, die Menschen mit Behinderung unterstützen, die Opfer intersektioneller Diskriminierung sind. Beispielsweise von Frauen mit Behinderung oder Roma mit Behinderung, die noch stärker von den Konsequenzen der Pandemie betroffen sind.
    Wertschätzung und Unterstützung von pflegenden Personal, aber auch von pflegende Angehörigen ist enorm wichtig. Gerade im Lockdown ist es nicht möglich, gleichzeitig zu arbeiten und zu pflegen oder auf sein Kind mit Behinderung aufzupassen. 
  • Mein letzter Punkt ist: Verstöße gegen Menschenrecht dürfen nicht un-verfolgt bleiben. 

Deshalb fordere ich im Europäischen Parlament einen Untersuchungsausschuss zum Umgang mit BewohnerInnen in Einrichtungen während der Pandemie. Um Fälle von Isolation, Verwahrlosung und Verweigerung medizinischer Hilfe in Einrichtung für ältere Menschen und Menschen mit Behinderung nachverfolgen zu können. 

Langfristig gesehen kann ich nur immer wieder meine zwei Kernforderung wiederholen, für die ich in meiner täglichen Arbeit kämpfe. 

Erstens muss endlich die übergreifenden EU-Antidiskriminierungsrichtlinie vorangebracht werden. Es ist unmöglich, dass der Rat diese seit über 10 Jahren blockiert.
In bilateralen Gesprächen habe ich die Deutsche EU Ratspräsidentschaft mehrfach aufgerufen, das Thema endlich anzugehen. 
Gerade jetzt in Pandemiezeiten sind uns oft die Hände gebunden, weil wir keinen gesetzlichen EU-Rahmen haben, über den wir gegen Diskriminierung von Menschen mit Behinderung außerhalb der Arbeit vorgehen können. 

Zweitens brauchen wir eine starke EU-Strategie zugunsten von Menschen mit Behinderung für die Zeit nach 2020.
In der von mir initiierten Entschließung des Parlaments Mitte des Jahres fordern wir klar, dass die neue Strategie Rechtsverletzungen und Herausforderungen während der COVID-19-Pandemie evaluieren und spezifische Maßnahmen vorschlagen muss, um diese in Zukunft zu verhindern. 

Sie sehen also: Ideen für Maßnahmen gibt es viele, was wir nun brauchen ist der politische Wille. Und wir sind hier alle dafür da daran zu appellieren.